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KERSTIN NETHÖVEL
schreibt Prosa

Kerstin Nethövel

In der mich umgebenden Welt nehme ich etwas wahr, das mich anrührt, eine Regung, eine Bewegung, eine Geste, ein Wort, und das greife ich auf, damit es beim Schreiben immer weiter Gestalt annimmt und mit mir wächst, sodass daraus eine Geschichte entsteht. Meine Geschichte entspringt also einem Mikrokosmos, einem Wimpernschlag. Der Anfang passt in eine Nussschale.

Dieser kleine Piks war nicht nur eine Berührung der Haut, er ging durch die Haut hindurch und unter die Haut. Etwas sickerte in ihn hinein und überschwemmte seinen Körper. Haut. Barriere. Schutz. Grenzen waren wichtig. Aber dieser kleine Piks setzte sich über jede Körpergrenze hinweg. aus: UNTER ALIENS, in: Die Corona-Anthologie II by Cognac & Biskotten

Vielleicht heißt Oumou auch Binta, Fatou oder Malika. Das ist gut möglich. Ihre Papiere seien auf der Flucht verloren gegangen. Vielleicht hat sie einen anderen Namen angenommen. Oumou klingt schön. Sie hat sich für Oumou entschieden. (…) Abend für Abend ging sie zur Autostation von Conakry und beobachtete die LKW-Fahrer, die sich über ihre Packkisten beugten und ihre Waren auf die Ladefläche luden. Vielleicht fiel einem von ihnen etwas aus der Kiste, irgendwelche Früchte, vielleicht sah er freundlich aus. Oumou hob sie auf und reichte sie ihm. aus: ZUKUNFT OHNE GARANTIE, in: Die Rampe – Hefte für Literatur 02/2023

Ruth setzte sich an meinen Küchentisch, stellte die Elnett-Flasche, den Haarfestiger und das Shampoo vor sich hin und schüttete die Lockenwickler aus der Plastiktüte, sodass sie über den ganzen Tisch kullerten. Durch das offene Fenster hörte ich, wie der Fußball auf dem Sportplatz nebenan gegen das Gitter schlug. aus: STEIGERHAUS, in: Was ich gestern… Was ich heute… Essen unterwegs

Suse sah auf den Wecker, der an der Metallstange hing. Sie wirkte auf einmal entschlossen, erhob sich, stieg wie Johannes vorhin die Stufen hoch, und wieder hörte ich Schritte über mir. Wessen Schritte eigentlich? Suses Schritte? Was wäre, wenn es hier überhaupt keine Ellen gäbe?, dachte ich plötzlich. Für wen wäre dann der dritte Teller gewesen? Hätte es mit Lotte, Betty oder Polly auch funktioniert? Dann sag das doch. aus: SEERÄUBER-JENNY, in: Wir sprechen vom Wasser, Anthologie

Es gehörte zur Arbeitsweise Paul Facchettis, persönlich die Künstler in ihren Ateliers zu besuchen, um Bilder für die Ausstellungen in seiner Galerie in der Rue de Lille auszuwählen. 1952 zeigte er Jackson Pollock erstmals in Paris, zwei Jahre später Hundertwasser, ebenfalls erstmals in Paris, außerdem war er ein guter Freund von Max Ernst, der im selben Haus wohnte. Für meine Tante war die Rue de Lille Nummer siebzehn ein Mythos, sie war wie ein Versprechen. Viele der Künstler, die Facchetti ausstellte, verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Einige wurden berühmt. Und dann kam Facchetti zu ihr, Erica Terdenge, um großformatige Ölbilder auszusuchen. aus: VORKASSE, in: Wunderwerk Text, Anthologie

Das war Neumeier, schrie Teddie aufgelöst, Neumeier hat sich die Füße verbrannt. Er lockte Neumeier und flehte ihn an herunterzukommen, er kletterte auf einen Stuhl, war den Tränen nahe, versuchte den kleinen Vogel in seine Hände zu schließen, ihn zu streicheln, aber Neumeier wich zurück, blieb, wo er war.
aus: WRONG PLANET, Nettetaler Literaturpreis 2020

Wovon meine Großmutter an diesem Nachmittag in der Finca aber nichts erzählte, war, dass der Leman aus der Galerie Schaumann durch ihren Kauf zwar den Brand überstanden hatte, später aber nicht umhin gekommen war, gegen Lebensmittel eingetauscht zu werden. Und diesen doppelten Verlust seines Werkes wollte sie Leman gegenüber unbedingt verschweigen.
aus: KRAKE UND KUTTEN, in: Dichtungsring 50

Ich konnte zwar für zwei Monate meine Miete bezahlen, aber als Kurt Dewenter mir sagte, dass es die Tonbänder nicht mehr gebe, hatte ich das Gefühl, das Geld auf eine vollkommen absurde und sinnlose Art und Weise verdient zu haben. Und darüber konnte ich mich ihm gegenüber noch nicht einmal beklagen. Ich fragte mich zum ersten Mal, wofür er mich überhaupt bezahlt hatte.
aus: EXPLOSIONEN, in: mosaik 31

Solange ich sie anstarrte, waren sie ruhig und durch meinen Blick auf die Leinwand gebannt, kritisch würde es erst, wenn ich mich abwendete, wenn etwas mich ablenkte, dann würden sie lebendig werden und sich auf mich werfen.
aus: VORKASSE, in: Wunderwerk Text, Anthologie

Ich sammelte unzählige Zigarettenkippen ein und streute den Samen auf die Erde. Und wenn jemand auf diese Stelle aufmerksam würde und neugierig wäre und auf die Idee kommen sollte, hier zu graben, würde er niemals tief genug graben. Niemand würde die Erinnerungen finden.
aus: FORELLE UND OPTIMIST, in: Dichtungsring 52

Das ist mein Sohn, japste er, als der Sohn gerade ein grünes Büschel aus der Erde zog und in seinen Eimer warf. So geht es schneller. Kann sein, dachte ich. Kann sein. Der Eimer war noch leer. Ich dachte, dass ich mich später mit dem Gärtner unterhalten sollte, dass wir irgendetwas vereinbaren sollten.
aus: GASTGESCHENKE, AstroArt Literaturpreis 2015

Endlich löst der Starter den Kontakt aus. Die Eisen blitzen kurz in der Sonne auf. Einen orientierungslosen Augenblick lang sieht es so aus, als stehe die Zeit still. Etwas verlangsamt sich oder wird zurückgehalten, wie durch den Auslöser einer Kamera an Ort und Stelle gebannt. Wer jetzt an Boden verliert, wird die ersten Meter nie mehr aufholen. Nach hundertfünfzig Metern dürfen die Pferde an die Rails herangebracht werden.
aus: RENNBAHN, nominiert für den Lit.Award Ruhr 2010

Und viel später dachte ich, wie gern ich noch einmal über dieselben Dächer sehen würde, über die er gesehen hat.
aus: JAHRESZEITEN

Wen ich aber vermisse, das sind die Frau mit den nackten Schultern, der Pole und die Geburtstagsfrau. Und wenn ich noch einmal in diese Gegend zurückkehren würde, wenn ich noch einmal in diesem Hotel in Zentralpolen wohnen sollte, würde ich jeden Abend mit dem Aufzug nach unten fahren und an der Bar auf sie warten.
aus: DIE GEBURTSTAGSFEIER